In Fukushima herrscht eine unvorstellbare Situation vor, wie sie die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat.

Der original japanische Artikel: http://gendai.net/articles/view/syakai/144541

“Die Lage in Fukushima sei unter Kontrolle, der Austritt von Strahlung aus der AKW-Ruine vollständig unterbunden. Das versprach der japanische Premierminister Abe bei der 125. Vollversammlung des IOC. Aber rund 400 Tonnen Grundwasser dringen pro Tag in das Reaktorgebäude ein und kontaminiertes Wasser entweicht ins Meer. Was halten Sie als Spitzenwissenschaftler der Nuklearforschung von dieser Situation?”

Koide*: Wenn die Lage ungefährlich und sicher ist, soll er doch selber dorthin fahren.

“Was dachten Sie, als Sie die Aussage von Shinzo Abe gehört haben?”

Koide: Ich war sprachlos. Was meint er mit “unter Kontrolle”? Soll das etwa ein Scherz sein? In Fukushima herrscht eine unvorstellbare Situation vor, wie sie die Menschheit bisher noch nicht erlebt hat. Die LDP hat über Jahrzehnte eine Atompolitik betrieben und immer wieder versichert, dass die Atomenergie sehr sicher sei, aber das hat sich als Mythos entpuppt. Aber trotzdem sagt Herr Abe “unter Kontrolle”. Er hat kein Schamgefühl. Wenn er das ernst meint, soll er in dem havarierten Atomkraftwerk Fukushima arbeiten.

“Wie schätzen Sie die Situation das kontaminierte Wasser betreffend ein?”

Koide: Die jetzige Situation konnte man schon vorher erahnen. In dem havarierten Atomkraftwerk müssen die Reaktorkerne und Brennstäbe abgekühlt werden. Bei Kühlung mit Wasser, wird dieses kontaminiert. Das Dach des Reaktorgebäudes ist durch eine Wasserstoffexplosion abgängig und die Gebäude sind durch das Erdbeben vom 11.03.2011 und den anschließenden Tsunami zerstört, sodass das kontaminierte Wasser selbstverständlich austtreten kann. Das kontaminierte Wasser sammelt sich in Reaktorgebäuden, unter Turbinenhallen oder in unterirdischen Tunneln an. Das ist eine Tatsache, die jedermann unschwer einsehen kann.

“Schon im März 2011, kurz nach dem Super-GAU, haben Sie vorgeschlagen, dass das kontaminierte Wasser per Tankschiff transponiert werden soll.”

Koide: Die jetzige Situation habe ich damals schon kommen sehen. Wenn, dann muss das Wasser schnellstmöglich an einen sicheren Ort verbracht werden. Deshalb habe ich den Transport mit Tankern vorgeschlagen. In der Präfektur Niigata gibt es das größte AKW der Welt, Kashiwazaki-Kariwa, ebenfalls von Tepco betrieben, welches über eine entsprechende Abwasserreinigungsanlage verfügt. Dieses AKW ist aktuell außer Betrieb und meine Idee war es, dass man das kontaminierte Wasser von Fukushima dort aufbereiten könnte.

“Aber diese Idee wurde abgelehnt.”

Koide: Der Transport von radioaktiv kontaminiertem Wasser per Schiff kann Schwierigkeiten bereiten und etwa zu Protesten seitens des Nationalen Fischereiverbandes oder der internationalen Gemeinschaft führen. Ich vermute zudem, dass das es in der Präfektur Niigata eine Stimmung gegen die Verbringung von kontaminiertem Wasser nach Kashiwazaki-Kariwa gab. Im Mai 2011 habe ich Tepco dann vorgeschlagen, man solle eine unterirdische Mauer um die Reaktorgebäude errichten. Aber Tepco hat das aus Kostengründen abgelehnt, weil das angeblich zu teuer sei und man dies auf der Aktionärsversammlung im Juni 2011 nicht hätte durchsetzen können. Jetzt aber meint Tepco plötzlich eeine unterirdische Mauer bauen zuwollen. Will Tepco uns durch den Kakao ziehen?
Das Wasser ist bis zu dreimillionfach über den zulässigen Grenzwerten kontaminiert und die Situation außer Kontrolle geraten.

“Der Plan von der Regierung ist es, den Boden unter der AKW-Ruine einzufrieren, um so ein weiteres Einsickern von kontaminiertem Wasser ins Erdreich zu unterbinden sowie des Verbesserung des sogenannten ALPS, einem System zur Entfernung von Nukleiden. Wenn das ALPS-System gut läuft, kann das zur Entspannung der Situation beitragen?”

Koide: Das ist natürlich immer noch besser als gar nichts zu machen. Aber die Probleme mit dem kontaminierten Wasser sind alles andere als einfach zu lösen, da der Grad der Kontamination extrem hoch ist. Das Wasser enthält Caesium 137, Strontium 90 und Tritium. Üblicherweise darf in AKWs und ähnlich geartete Einrichtungen die Kontamination von Wasser mit Strontium 90 maximal 30 Becquerel pro Liter betragen. Das Wasser in Fukushima Daiichi weist jedoch 80 Millionen Becquerel pro Liter auf und ist somit dreimillionenmal höher kontaminiert als erlaubt. Es ist vermutlich gar nicht möglich die Kontamination auf ein Dreimillionstel zu senken. Weil Tritium zudem flüssig ist, ist eine Dekontamination mit ALPS gar nicht möglich.

“Wie ist es um die Wirkung einer Mauer aus gefrorenem Erdreich bestellt?”

Koide: Ich denke, dass man eine Mauer aus Stahl und Beton errichten sollte. Eine solche Konstruktion hält lange, mindestens zehn bis zwanzig Jahre. Aber so etwas kostet viel Zeit und Geld. Wenn man allerdings die Dringlichkeit der aktuellen Situation berücksichtigt, sollte man umgehend eine Mauer aus gerfrorenem Erdreich errichten, und sei es nur als Provisorium. Wenn dieses Projekt mit der Mauer aus gefrorenem Erdreich keinen Erfolg hat, weiß keiner wie lange die Situation stabil bleibt. Daher muss die Eismauer durch eine Stahl- und Betonkonstruktion zusätzlich geschützt werden.

“Herr Koide, Sie vertreten die Meinung, dass die Kühlung mit Wasser beendet werden soll.”

Koide: Wenn man weiterhin Wasser zu Kühlung heranzieht, wird das die Gesamtmenge an kontaminierten Wasser erhöhen. Diese Situation gilt es zu ändern, wenngleich es wichtig ist, dass weiterhin eine Kühlung stattfindet. Welcher Kühlmethode man sich bedient ist praktisch egal. Der Reaktor in AKW Tōkai etwa wird mit Kohlendioxid gekühlt, was zur Folge hat, dass man dadurch kontaminiertes Gas generiert. Ein anderer Plan sieht die Verwendung von Metall vor. Wenn man etwa den Reaktorkern mit Blei ummanteln könnte, dann würde diese zuerst schmelzen, dann aber mit der Zeit abkühlen und zu einer festen Bleimasse erstarren, vermute ich. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das eine geeignete Methode ist und man sollte sich diesbezüglich mit Spezialisten aus dem Bereich der Metallurgie beraten.
Man muss einen Sarkophag wie inTschernobyl errichten.

“Wie kann man Fukushima Daiichi stilllegen?”

Koide: Es gibt nur ein Weg dies zu erreichen, nämlich indem man einen Sarkophag wie in Tschernobyl errichtet. 27 Jahre nach der Errichtung des Sarkophags in Tschernobyl zeigt der Beton Zerfallserscheinungen. Fukushima Daiichi verfügt über vier Reaktoren und wenn sie dort einen Sarkophag bauen wollen, müssen zuerst die Brennstäbe aus den Reaktoren sicher entfernt werden. Keiner kann abschätzen, wie lange diese Arbeiten dauern würden.

“Es ist unfassbar, dass Tepco immer so spät reagiert und nur provisorische Maßnahmen ergreift.”

Koide: Das AKW-Gelände ist sehr schwer verstrahlt, sozusagen ein radioaktiver Sumpf. Die Arbeiter, welche länger dort arbeiten, werden einer stark erhöhten Strahlung ausgesetzt. Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb Tepco immer provisorische Maßnahmen ergreift.

“Was meinen Sie, wird es in den kommenden zehn Jahren überhaupt genügend Arbeiter für die in Fukushima zu bewältigenden Aufgaben geben?”

Koide: Direkt im Anschluss an die Reaktorkatastrophe vonTschernobyl waren dort 600.000 bis 800.000 Menschen beschäftigt, auch heute noch arbeiten dort mehrere tausend Personen. Das war aber eine Katastrophe mit nur einem Reaktor. Fukushima hat hingegen vier Reaktoren. Ich kann mir daher gar nicht vorstellen, wie viele Menschen dort arbeiten müssen.

“Aber dennoch hat das Kabinett Abe beschlossen, dass sie weiter an der Kernenergie festhalten.”

Koide: Wenn kleine Betreibe die Umwelt vergiften, dann werden diese angeklagt und diese Unternehmen können in Folge pleitegehen. Aber im Fall von Tepco hat es keine Anklage gegben. Das heißt, doch dass die Regierung die Stromkonzerne mit einer Art Immunität versehen hat und seshalb wollen alle Energieversorgungsunternehmern ihre AKWs wieder hochfahren.

*Hiroaki Koide ist ein Atomwissenschaftler (Assistant Professor am Kyoto University Research Reactor Institute, KURRI) und Anti-Atom-Aktivist seit seinen Studententagen. Er ist eine Ikone der japanischen Anti-Atom Bewegung.

Illustrated by Reiko Ikoma